Dienstreise 18.9.91
Ich begleite einen freiwilligen Rückkehr zum Flughafen.
Heute Nachmittag treffen dafür 20 Flüchtlinge in der Woche ein, für die
verzweifelt in den letzten Ecken nach Raum gesucht wird.
Im Bahnhof Mainz ein
japanisches Paar lacht frei in der leichten Atmosphäre - fern der Heimat, fern
der Sorgen. Dieser hier war anders fremd. Im mühsam verhaltenen Haß auf ein
Land ‚ das ihm jede Bewegung sauer machte, jede Regung mit Zeigefinger oder
Keifen kommentierte, wartet
er. Er pfeift auf die
"Anerkennung".
die dann eine Generation später doch ins Autoritäre versanken..
Unter den Schuhen und Turnschuhen, zwischen Krümeln von
Pizza und Pausenbrot sucht eine graue Taube ihr Futter. Es stellt sich nicht
die Assoziation von Frieden und Reinheit ein,
sondern die von einem geilen Alten, dem des Weibchen verloren ging.
Jetzt frißt er halt.
Ich
habe die Pasolini-Nummer von Wagenbach dabei. Leider nur nett.- Aber die
Lobredner des Kritikers müssen nun nicht selbst über seine sozusagen explosive Urteilskraft
verfügen..
Im Flughafen bin ich sogleich dem Angriff
-euphemistisch Angebot- des Konsumbreis
ausgesetzt (Aha!-Pasolini!).Noch ist der Kopt voll von ausgewalzten Essays. So kann ich mich leicht
entziehen, indem ich mich mit einer- Zeitung für DM 2‚50 freikaufe. Zugegeben:
bei 20 DM in der Tasche liegt es nahe, den Ekel vor dem Konsum mit Neid — oder
Unkenntnis zu verknüpfen. Daher bleibt mir nichts als die Versicherung‚ daß mir
Kaviar nicht zu sauer, sondern zu glibberig ist, Champagner nicht besser
schmeckt als "Germania Pilsner" vom billigen und dass ich zu all dem
raffinierten und deftigen, zum edlen wie zum hausgemachten nur verführbar bin,
so lange sich in meinem Kopf nichts bewegt und daß mir eben diese Bewegung mehr
wert ist als jede "Leistung".
Von der Welt kosten oder aus ihr heraus mich selbst‚ aus ihr
heraus sie betrachten: das erste bringt mich endlich zum Kotzen das andere
manchmal in die Einsamkeit und selten zur Begegnung mit ebenso zwischen
Enttäuschung und dem Glück von Kommunikation schwankenden Mitbewohnern dieser
Aschehügel von Kinderparadiesen, dieser Blutmeere vor Hawaii. Das letztere hält mich; das
andere lobt mich‚ bin nicht ich, spuckt mich aus.
Die Zeitung ist die Moskau—News vom September 91. Ein
Glückstreffer! Was sich in der früheren UDSSR Jetzt an Freiheit aber auch an
ursprünglicher Selbständigkeit der Köpfe bewegt, davon machen wir alten in der
Konfrontation geprägten Westler uns völlig abstruse altbackene Vorstellungen.
Wir glauben auf dem Höhepunkt der Freiheit und der Wirtschaftskraft zu stehen.
Der Osten wird uns nicht "barfuß
überholen"
sondern sicher von Amerikanischen und selbstgezeugten Multis geschluckt.
Aber dort ist eine Kultur geboren, für die sich nachgeborene Menschengenerationen
nicht nur historisch sondern brennend interessieren werden‚ während hier die
prästabilierte Harmonie der Umfragemassen zur Agonie der Persönlichkeit geführt
hat. Von den Regionen der neuen Freiheit aus wird unser "Modell"
beurteilt werden‚ erkannt als Reklameschild für den Menschen in Dosen. Sie
haben jetzt das Wissen,
was Selbstbestimmung wirklich ist‚ das wir längst ad acta der Verfassung gelegt
haben.
Die durchrationalisierte Projektion von Machtorganisation
aus der Arbeitswelt auf das gesamte Leben‚ soweit es nicht würgender
Konsumismus ist; jede Zumutung gegen die Person als Notwendigkeit begründet;
keine Lebensregung ohne Abstimmung mit Umfragenormen - das ist es‚ was sie
gerade nicht haben wollen. Wir waren keine Einheitsdosen im real existierenden
Sozialismus. Was hier an brauchbaren Menschentypen sich freiwillig formen ließ
war nicht uniform sondern frei kompatibel.-
Wir alt gewordenen Trittbrettfahrer der 68’er können über
unsere geistigen Orientierungen und Interessen nicht mehr ungebunden bestimmen.
Zu sehr sind wir durch die früheren Kämpfe konzentriert auf die Schäbigkeiten
des Westens. So ist die Kommunikation mit den Intellektuellen der neugeborenen
Republiken die Chance für eine andere Jugend‚ die nach Autonomie im Erfahren, Erkennen, Urteilen sucht.
Elend und Glücksrittertum in den armen Nationen machen sich
noch auf den Weg in die Konsumentenparadiese. Die Sehnsucht nach Freiheit aber
hat in den gleichen Regionen eine andere Hoffnung gefunden. In einem Beispiel
von Selbstbestimmung durch Selbstvertrauen.-
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