Vulnerabel
Das Wort ist mit leicht erhobener Stimme auszusprechen. Ich betrachte die Falten auf meinem Handrücken.
Der Fluss wird breiter. Es lohnt nicht mehr zu tauchen, die goldreichen Gründe liegen weit hinter mir. Aber da sind Nahrung und Kleidung genug, bis zum nächsten Hafen auszukommen.
Menschen. Wie lange habe ich keine mehr gesehen! Manchmal tauchen Gespenster in Masken aus dem Nebel der Ufer. Traurige Figuren, mechanischer Gang. Wie ohne Ich. Manchmal nur dringt der ferne Lärm eines Festes herüber. Oder ist es Schlachtgetümmel?
Sonst bleibt es ruhig. Das Radio mit den immer gleichen Songs meiner Generation und den immer gleichen Ermahnungen habe ich ausgeschaltet. Das Paddel macht das vertraute Geräusch von ins Wasser schlagenden Flossen. Ich lese ein Märchen, gehe zum Essen an Land, packe Zelt und Zigarren aus.
Die Falten ziehen ein Netz um blaue Adern. Altersflecken treten aus der Zeit, geplatzte Blutfasern kommen an die Oberfläche. Auch ich spürte früher ein unangenehmes Gefühl beim Anblick der Alten. Höre ich das Wort "vulnerabel" glaube ich einen leichten Ekel zu hören von beschäftigten Menschen, die Dich umrennen, weil sie Dich nicht sehen, auf Deine Langsamkeit nicht gefasst waren.
Da sind x Menschen gestorben, ein Mensch hat y Menschen umgebracht, der Minister z appelliert an die Menschen im Lande. Auch diese Verwendung eines Begriffs zeigt sich als verächtlich: Hanna Ahrend hat davor gewarnt: die Rechte der Person sind keine der "Menschlichkeit", sondern der Person. Der mitleidige Ton im Wort "Vulnerable" macht mich zur Verwaltungsmasse.
Ich fahre zu den Menschen. Ich brauche ein Gespräch mit mir Gleichen und Freien. Aber das Forum ist versperrt und die Lautsprecher tönen.
Ich lege ab. Dein Kanu an meiner Seite. Ich streiche über meinen Handrücken und schaue in Deine Augen. Sieh, unsere Schatten reichen zum Horizont! Wir reden.
Klaus Wachowski 6.1.2021
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