Lass mich vom Alter erzählen. Ich stelle mir nichts darunter vor, bin mitten drin.
Heute ist neuer Anfang nach Weihnachten. Die Wohnung ist erst mal auf Stand. Es geht hinaus in den kalten sonnigen Tag.
Es ist etwas von kalt auch in mir, aber ich habe heute morgen unvermutet eine Zeichnung von mir aus diesem oder dem letzten Jahr gefunden. Es freut mich. Sie ist mir gelungen, obwohl ich damals eher dachte: irgendwie spießig. Anderen mag es so erscheinen, mir gefällt es plötzlich. Ich weiß noch wie der innere Anspruch lautete: zeichne doch einmal dieses schöne Blatt nach! Gleich zeichnete ich es fünf mal neben - und übereinander mit Schatten.
Jetzt sagt mir die Form: erinnere Dich. Und die Erinnerung an dieses Gefühl erfüllt mich. Vielleicht ist es etwas von dieser Altmännerphilosophie des zen, dieses plötzliche Ahnen vom Einswerden mit Allem, so etwas wie ein atheistisch - religiöser Orgasmus. Egal: es macht high, lässt die Zeit stehen, den Raum verschwinden. Für einen Moment.
Es war gut. Es geht weiter. Ich denke: Zeichnen erscheint mir wie das Echo der leisesten Berührung, die der Mensch spüren kann. Manchmal gelingt es, dieses Fühlen zu teilen, mitzuteilen. Kunst hat nichts von Größe, nichts mit ihr zu schaffen. Wer verehren will, gehe zum Guru. Aber mit etwas Glück kann sie ihre Freude vermitteln.
Also weiter über die feuchten, braunen, in Fäulnis übergehenden, aber zum Teil noch gefrorenen Blätter. Erinnerungen an andere Zeiten nach anderen Weihnachten kommen auf. Wie war das im letzten Jahr, wie vor zehn, fünfzig Jahren?
Ja, ich habe schon Hoffnungen auf die Zukunft des nächsten Jahres: neue Begegnungen, mehr aber auf die Erinnerungen, die sie in mir auslösen. Die Wintersonne über meinen Regenpfützen in hoffender Kindheit, in Einsamkeit und Erwartung der Jugend, im Weg durch den Schnee mit Dir, in Staunen und Vorfreude der Kinder. Der Gesang von Meise und Amsel aus den Himmeln des Frühlings, die Frieden atmende Landschaft des Sommers, ein Fluss, eine Stadt, die wehmütigen Blüten des Herbstes. All die Jahre, Jahrzehnte. All die Zeit.
Zwei Schulen des zen bekämpften einander erbittert: die eine von der plötzlichen Erleuchtung, die andere von der disziplinierten Meditation. Das braucht auch der japanische Alte nicht, ob weise oder ganz normal. Im Alter führt beides zum Glück der Erinnerung. Sie ist schon eine Droge gegen die Trauer.
So lass uns hinaus gehen, diesen tropfenden Zweig staunend berühren. Wie war das noch? Diesen vom weißen Wolken durchzogenen fahlblauen Himmel in uns hinein sinken und einen Glühwein gegen die Kälte trinken und zur Lockerung der Zunge. Und eine Zigarre am Stand. Ist es nicht schön, Mensch zu sein in der Welt der Menschen?
Ende 2022