Annie
Ernaux -Eine Frau,
Eine faire Biographie und sachliche Liebeserklärung
Fast etwas wie der Anton Reiser über sich selbst.
Nach langer Zeit ein Buch der Neuzeit, das mir gefallen hat. Ich liebe Virginia
Woolf. Aber wie elend lang ist die eine Biographie, die ich unbedingt lesen
wollte.
Ich brauche nur 5 Stunden, um das Buch zu lesen. Auf den letzten Seiten kommen
mir die Tränen. A.E. war im Zeitraum der Niederschrift 46 Jahre. Heute dürfte
sie über 80 sein.
Was mir gefällt: die sachliche und dennoch liebevolle Art der Beschreibung
eines Lebens. Wie sehr doch die Hoffnungen und Sehnsüchte dieser Frau, der Mutter,
doch von einem Streben bedrängt wurden,
das sich aus dem Wandel vom Überleben zum Ehrgeiz speiste. Sie wollte
nicht zum Pöbel aber auch nicht zur Arroganz gehören. Und da man/frau selbst
nicht zu einem solchen Ruheplatz in der Welt gelangen konnte – es ist immer zu
spät - sollte es wenigstens die nächste Generation „gut haben“.
Mit den
negativen Folgen, die wohl die allermeisten aus den Nachkriegsjahrgängen
hatten: Zweifel und Selbstzweifel, Konkurrenz und Scheitern, Manie und
Depression. Die 68er brachen damit, gaben in den 80ern aber auf und
"verrieten" die Brotherhood of man an Betriebswirtschaft und Ruhm.
Diese Frau wollte das Beste für ihr Kind, das Leben in der besseren,
wichtigeren Gesellschaft der-- Literatur.
Das bringt mich zu einem Satz, den die Tochter nicht weiter kommentiert, der
mich aber auf eine Frage bringt, die AE wohl nicht ansprechen wollte, um die
Neugier fern zu halten: "(sie) lächelte,...bei einer Redewendung, die sie
für poetisch hielt,("wir sind nur Besucher auf dieser Welt"), als
wollte sie die Anmaßung herunterspielen, die ihr über die Lippen kam."
Ich lese aus der Liebe Der Mutter zu dieser Redewendung noch etwas anderes als
ein Bedürfnis der Zugehörigkeit zu höheren Kreisen: die Frage nach dem Sinn.
Die
Sinnfrage betrifft jede und jeden, die die Zeit und das Interesse haben, sich
selbst und ihr Verhältnis zu dieser kurzen Zeit Leben zu betrachten. Dies gilt
nicht nur in der Sphäre der Intellektuellen, wo das Geltungsbedürfnis das
Interesse nicht weniger abdrückt als Angst vor und die Wut über die Not in der
Sphäre des Wirkens.
Weitere
Hinweise auf ein solches Fragen sehe ich in den Gottesdienstbesuchen und im
Interesse an Büchern. Die Tochter sollte es besser haben, ja! Aber nicht (nur)
in der Welt des Wohlstands, sondern in der des "Wortes und der Ideen"
also in der des Sinns. Und selbstverständlich in der des Anstands (mit kleinen
Gehässigkeiten im intimen Gespräch unter Familienmitgliedern und Freunden).
Ein weiterer Satz von Bedeutung für mich, der ich nun selbst älter bin und
Worte zu verlieren beginne:
„In einem Brief im November: "Liebe Paulette, ich habe die Finstemis noch
nicht hinter mir gelassen."“
Sie war schon in der Einsamkeit von Heim und Alzheim. Was ist finsterer als das
Gefühl, die Zugehörigkeit zu verlieren, allein zu sein im Verlust der Worte und
Werte und bald der Würde. Wo nun auch die Fragen versinken und die Liebe mit
ins Nichts reißen? Wo geht es hin aus der Finsternis?
Sie jedenfalls kämpft: "Die Worte, die zu ihr durchdrangen, verloren ihre
Bedeutung, aber sie antwortete trotzdem aufs Geratewohl.
Sie hatte immer noch Lust, sich zu unterhalten. Ihr Sprachvermögen war intakt,
zusammenhängende Sätze, richtig ausgesprochene Wörter, nur eben ohne Bezug zu
den Dingen, der Fantasie entsprungen.
Sie erfand das Leben, das sie nicht mehr führte: sie fuhr nach Paris, sie hatte
sich einen Goldfisch gekauft..."
Sich unterhalten wollen, das Ein- und Ausatmen des Schwarms, in dem wir aufgehoben
und beobachtet sind. Gelten wollen: ja; nicht aber herrschen wollen, was ja -
wie die Angst - Monolog braucht. Sich unterhalten muss nicht unbedingt "Kommunikation"
sein, es driftet aber darauf zu.
Älter geworden finde ich okay und öfter sogar schön, was ich noch bis vor
kurzem, in den 60ern noch mit "Geltungsbedürfnis" abgetan hätte. Das
ursprünglichere Bedürfnis der Zugehörigkeit scheint mir hier mindestens ebenso maßgebliche
Influenzerin gewesen zu sein.
Aber was auch!?: Wenn der Regen kommt, suchst du in jedem Schatten Erinnerung
nach einem Sonnenstrahl. Eine im Jargon des Aufstiegs "einfach"
genannte Frau las Le Monde und den Observateur. Wozu sonst als "zu
verstehen", ganz wie Hannah Arendt es versuchte?
Wichtiger aber ist Mir schon das Bedürfnis, mit dem Kind zu sprechen und
zusammen gehen zu wollen, das Wunder der Welt sehen.
Die Tochter:
"Dies ist keine Biographie und natürlich auch kein Roman, eher etwas
zwischen Literatur, Soziologie und Geschichtsschreibung. Meine Mutter, die in
ein beherrschtes Milieu hineingeboren worden war, das sie hinter sich lassen
wollte, musste erst Geschichte werden, damit ich mich in der beherrschenden
Welt der Wörter und Ideen, in die ich auf ihren Wunsch hin gewechselt bin,
weniger allein und falsch fühle."
"Ich
werde ihre Stimme nie mehr hören. Sie, ihre Worte, ihre Hände ihre Gesten, ihr
Gang uhd ihre Art zu lachen waren es, die die Frau, die ich heute bin, mit dem
Kind, das ich gewesen bin, verbunden haben. Ich habe die letzte Brücke zu der
Welt, aus der ich stamme, verloren.
Sonntag,
20. April 86, Februar 87"
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