Der alte Herr Schlämmer
Ich glaub, ich seh nicht recht:
steht doch tatsächlich der alte Schlämmer im Schnee und fegt seinen
Bürgersteig. Die rote Nase weist ihn als einen der wenigen Mächtigen in dem
Zweitausend-Provinz-Seelendorf aus, die abgezirkelten Bewegungen als ehemaligen
Streber vom Wiesbadener Coniferen-Gymnasium. Das professionelle Lächeln, mit
dem er die beiden Herren Doctores grüßt,- (er legt Wert auf sein Wissen darum,
dass es nicht Doktoren heißt)- es hat noch nicht unter dem Eintritt der ehrenvollen
Beendigung seiner Amtszeit gelitten.
Dr. Smirc möchte knapp grüßend
vorbeigehen aber Warnix reitet der Teufel. Schnurstracks über die Straße.
"Hallo, Herr Schlämmer!" Er stellt sich vor, wie diese bewußt den
Amtstitel mißachtende Ansprache sich in den aufgeweichten Herrschaftsstolz der
pensionierten Macht bohrt. Es nennt sich Schadenfreude und gehört nach
Schopenhauer zu den Attributen der Bosheit. Aber Warnix lässt es hier gerne
los. "Sie wissen ja, daß Sie auch die Straße bis zur Mitte reinigen müssen!“
Mit der heuchlerischen Freundlichkeit von Hunderttausend € jährlich plus.
Schlämmer steht kurz vor dem
Aufbrausen. "Warum muss ich immer versuchen, mich mit den Leuten gemein zu
machen? Jahre Dienst an der Allgemeinheit. Und nun Gehässigkeit und Missachtung!"
Dr. Smirc zu Dr. Warnix: "Ich
schunkle ja auch nicht gerne Arsch an Arsch mit der Gemütlichkeit. Aber ich bin
auch hundsfroh, dass ich weder Beifall noch Verehrung von Abhängigen
brauche."
Warnix erinnert sich an den
Barras-Ton, als Schlämmer eine Mitarbeiterin vom ehrlichen Wort aus seiner Nähe
verbannen ließ, an die barsche Art wie er einem Untergebenen die Bitte um eine
Lohnerhöhung abschnitt: "Seien Sie froh, daß Sie bei mir untergekommen
sind!"
Sind solche autoritären Stiefel
schon als Jugendliche erkennbar? Knecht sein, Knechte sammeln? Andererseits:
Gäbe es Gleichheit, wie lange bräuchte es zu Entscheidungen? Die Republiken der
Cherokee sind wohl eben aus diesem Mangel heraus den vorangepeitschten Truppen
der Kavallerie unterlegen.
Wichtiger aber erscheint Dr.
Smirc die Frage: Wozu so ein Nichts von Leben anstreben? Was gibt Dir die Macht
schon? Außer Geld?
Gehorsam!- Ist es nicht schön,
Menschen allein mit wörtlichen Anweisungen marschieren zu lassen? Dr. Warnix
kurz: "Du meinst, den Sand des Lebens von einem zum anderen Ende des Kinderkastens
schaufeln lassen?" "Nicht primitiv werden!" Jacko Ivanowitsch
Smirc reagiert unwirsch, "Du bist doch plötzlich Teil einer Lebensorganisation,
die es sogar erlaubt, Menschen an Deiner Stelle in den Krieg zu schicken und auch
sterben zu lassen.“
Warnix bei sich: "Ich denke
an den Russen Tschechonadski, kein Putin, der schreibt "Auch ich habe
gekostet von der Macht-, auch mein Tisch war gedeckt mit unterschriftsreifen
Papieren.- Sie hat mir nicht geschmeckt." Ist das nicht eine stolzere,
würdigere Haltung?"
Laut: "Ich konnte meine
Macht nur mit der Entschuldigung ausüben, dass es für sie eine Überprüfung gab
und dass ich weitestmöglich gerecht blieb. Macht ohne wirksame Einschränkung
war mir schon immer zuwider."
Smirc glaubt das natürlich nicht.
Es klingt ihm zu sehr nach dem Fuchs, dem die Trauben zu sauer sind: "Dann
war Dir wohl auch die Verehrung, habe die Ehre, Herr Dr., nicht wert, Dich nach
oben zu kämpfen?!"
Dr. Warnix winkt ab. Wer glaubt
schon wie er an die Moral anarchistischer Märchen, Resolutionen der Republik,
an die Brüderlichkeit von Traueransprachen?! Das Ah und Oh vor Königen und Schauspielern,
vor Stars und ihren Erwerbern, vor Held und erstem Professor bringt selbst den
kritischen Kopf von seinem Weg ab.
"Und erst die Segnungen der
Korruption!", Smirc läßt nicht locker. "Wie doch die Kunst und was
sonst noch käuflicher Genuss ist, die Beine spreizt unter dem Lächeln des
Großen!"
"Mann, merkst Du nicht, wie
sex, drugs n rock'n roll der Herrschaft über das Leben ablenkt von seiner Schönheit?"
Dr. Warnix ist nun wirklich sauer über die Sticheleien des Freundes. "Größenwahn,
Vorabeiter, Boß, Gewerkschaftsboß, blablabla. Heiliger der Herrschaft, hast Du
die Grabrede des Todes schon wieder vergessen?"
Ja, der Tod als Trauerredner, das
war schon eine Erfahrung:
"Verehrte Anwesende,
Verehrte und Verhasste, Hinaufgelangte und Übergangene, Freunde der Menschen
und Dividenden. Wir sind hier zusammen gekommen, um unsere liebe und
vorteilhafte Angehörige zu begraben.
Wer war es, der ihr den Namen
Einsamkeit gab? Es muss lange vor unserer Geburt geschehen sein. Als wir ans
Licht kamen, war sie schon da und schloss uns ein in ihre gläsernen Wände. Alle
Mühen der liebenden Eltern, alle Ermunterungen und Spiele der Freunde, die
prächtigen Licht- und Schattenspiele von Natur und Lust, das Heulen der
Herrschaft, das Bellen ihrer Speichellecker waren immer nur kurzfristig in der
Lage, die Tür in die Welt von Ich und Du zu öffnen. Die Einsamkeit aber war
nimmermüde, überall und treu in Freude und Leid.
Als sie dann in einem tiefen
Schmerz, oder war es ein langes Siechtum an Aufmerksamkeit übender Liebe?,
verschied, da spürten wir erst, was wir an ihr gehabt hatten. Nun gleiten wir
in einer immerwährenden Gemeinsamkeit dahin, frei von Frust und Lust und ohne
Furcht und Glauben um das Nichts. Wir versinken im Glück und Leid des Wir, wir
vergessen den Weg, Anfang und Ende, wo uns das Ineinander auflöst.
Seien wir dankbar! Erinnern wir
uns der guten Zeiten ihrer Allgegenwart! Wie tröstlich war es doch, fremd zu
sein in der Welt! In den schwülen Sommernächten der Liebe erhob sich nach
manchem Gewitter der Blick in die eisigen Horizonte einer Gleichgültigkeit. Sie
öffnete den Raum über den Straßen der Sehnsucht, über den Nomadenzelten des
Ich. Unter ihrem glitzernden Schweigen allein konntest Du den Rhythmus des
Herzens nach einem Du pochen hören.
Nun, wo wir Tag für Tag mehr vom
Licht der Erkenntnis an Zufriedenheit und Wohlgefühl verlieren, lasst uns die
schmerzend glimmenden Reste der Einsamkeit suchen in der Erinnerung, so lange
wir noch etwas vom Ich wahrnehmen können.
So wollen wir uns bedanken bei
jener Unbekannten, die ausgerechnet uns unter Millionen Möglichkeiten
auswählte, im Leben zu erwachen und uns beschenkte mit Liebe und der Sehnsucht
Einsamkeit, der Lust, Leben zu erleben und weiterzugeben!
Der Redner verlässt das
Podium:" Die Angehörigen aus den beiden Familienzweigen Ruhm und Macht
laden im Anschluss zu einem Imbiss Narzissmus, Burnuts und Deprösterchen ein.
Da wollen wir lachen und fröhlich sein.
Für die von Weiter hergereisten
darf ich günstige Unterkunft im Paarhotel Exit empfehlen."
Und so weiter, und so weiter. Die
beiden Doctores müssen sich beeilen, wenn sie ihren Platz bei der
Carnevals-Degustation nicht verlieren wollen. Heute steht die Verkostung von
hochprozentigen Karriereschnäpsen an, gut abgelagert in Vorstandskonten. Der
Wein der braven Denkungsart soll nichts sein dagegen.
Da! Schon hört man fernes Tuff-ta
und ehrerbietiges Schweigen betrommelt die Promipercussion des Provinzblatts.
Beschwingt vergisst und vergibt man. Die Probiergläschen werden präsentiert und
mit Gott wirft man sich unter einem fettglänzenden Gospelschauer ins Gedränge
am Trog.
Oder doch ohne Gott? Einer will
ihn beim alten Schlämmer gesehen haben.
Das glaubt aber nicht mal der
sonst doch alles glaubende Salaf vom Pegihool. Da gehe eher ein Kamel durchs
Nadelöhr.
Gott sagt: "Nun lasst doch
mal! Der ist alt!"
6.1.2015
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